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Optischen Experimentalismus in der Bildkunst

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Optischen Experimentalismus in der Bildkunst

Karl Friedl (1881-1951)
2012, oil on canvas, 31×27 cm

Optischen Experimentalismus in der Bildkunst

Karl Friedl (1881-1951)


Optischen Experimentalismus in der Bildkunst

BIBLIOGRAPHIES

 

 

Das reflexive Bild: Licht, Evidenz und Reflexion in der Bildkunst (Teil 1)

Hartmut Böhme
Das reflexive Bild: Licht, Evidenz und Reflexion in der Bildkunst (Teil 2)*

Eine großartige Lichtszene entwickelt der Stecher Pierre Miotte auf dem Frontispiz zu Kirchers Ars Magna Lucis Et Umbræ (zuerst 1646) (Abb. 8). Wie bei Riccioli sieht man oben das Tetragrammaton in einer Lichtgloriole, die neun Engelsköpfe erleuchtet: ätherisches Licht, das die christliche Rahmung für die folgende Ausdifferenzierung in vier Quellen des Wissens ab gibt: Links oben die Bibel, deren Auctoritas sacra direkt durch die von Gott kommenden Strahlen illuminiert wird. Rechts ist die noch Gott nahe Ratio dargestellt, durch ein inneres Auge der Erkenntnis repräsentiert, von dem die Schreibhand erleuchtet und geführt wird. Darunter sind, dem hermetischen Polaritätsprinzip entsprechend, der Lichtgott Apollo (durch Sonne, Sternkreiszeichen und Planeten-Stab mit Auge, sowie den - habsburgischen - Doppeladler bezeichnet) und die nächtliche Diana plaziert (mit Mond, Sternenmantel, Pfauen[15] und Eule). Diana reflektiert das Licht Apolls. Zwischen ihnen erscheint die Himmelsschale mit dem Zodiakus, zugleich als Titelträger und Widmungsadresse an Erzherzog Ferdinand. Dessen Porträtmedaillon erscheint senkrecht darunter, eingefaßt durch den Regenbogen, Brechungssphänomene darstellend, und durch die ein Dreieck bildende Kreuzung des Sonnen- und des reflektierten Mondlichtes. Die dritte Erkenntnisquelle, sinnliches Erfahrungswissen, basiert auf dem Sensus, der das Sonnenlicht durch ein Fernrohr verstärkt. Weltliche Autorität (Auctoritas profana), als vierte Erkenntnisquelle, wird unten links nur durch eine schwache Kerzenlaterne in dunklem Gewölk erleuchtet. Im Garten ist eine Sonnenuhr zu erkennen: Meßkunst durch Licht. Der zweite Strahl Apollos dringt in eine finstere Höhle vor, wo er reflektiert wird: Dies mag ein Anspielung auf den mundus subterraneus sein, dem Kircher 1664/65 ein zweibändiges Werk widmet,[16] um das Licht der Erkenntnis auch dort auszubreiten, wo es von Natur aus nicht ist. Doch ist die Felshöhle auch zu verstehen als ein Werk der ars naturae, die der Villa und dem geometrischen Garten korrespondiert: der natürlichen Architektur des Erdkörpers ist die auf Geometrie und Mechanik beruhende menschliche Architektur gegenüberstellt. Wenig auffällig, doch systematisch wichtig ist die Horizontlinie, die oberhalb des Scheitelpunktes des Regenbogens direkt durch die Kreuzung der Lichtbündel Apollos und Dianas läuft: hier enden die senkrechten, vom Tetragrammaton ausgehenden, schon stark geschwächten göttlichen Lichtstrahlen und es beginnt, durch horizontale Schraffuren bezeichnet, die sublunare, dunkle Erdsphäre. Ihr sind Auctoritas profana und Sensus zugeordnet. Ohne die vielfachen reflektorischen, refraktorischen und gebündelten Strahlungen durch die höheren Vermögen der Ratio und der Auctoritas sacra, die sich zwar nur abgeschwächt, aber doch erhellend mitteilen, und ohne die technische Aneignung des natürlichen Lichtes wäre im wahrsten Sinn unsere Welt ohne jede Evidenz.

Pierre Miotte; Frontispiz zu: Athanasius Kircher: Ars Magna Luds Et Umbra.

Abb. 8. Pierre Miotte; Frontispiz zu: Athanasius Kircher: Ars Magna Luds Et Umbra, Amsterdam: Janssonium & Weyerstraet 1671.

Kircher verfügte über eine wache Aufmerksamkeit für technische Licht-Medien und deren wissensgenerierende wie spektakuläre Performativität (Abb. 9). Vielfach experimentierte er mit der camera obscura zur Bild-Aufnahme. Hier geht es indes um die laterna magica, ein von Christian Huygens zuerst beschriebenes, durch den Dänen Thomas Rasmussen Walgensten zu theatralern Einsatz gebrachtes, epidiaskopisches Gerät zur Bildprojektion, dessen Invention sich Kircher fälschlich zuschrieb. Es werden schon ganze Bildserien wie durch Magie an die Wand projiziert. Bildprojektionen dienten indes nicht nur, wie hier das Schreckenstheater der Hölle, zur frommen Erbauung oder zum visuellen Entertainment,[17] sondern auch zur Wissensgenerierung. Dafür ist das erstmals von Kircher beschriebene Sonnenmikroskop ein Beispiel, hier in der Darstellung Martin Frobenius Ledermüllers in seiner Mikroskopischen Gemüths = und Augen = Ergötzung (Abb. 10):[18] es projiziert mikroskopische Sehbefunde und mildert dadurch in diesem neuen Forschungsfeld ein fundamentales Problem, nämlich das der Zeugenschaft. Das Sehen im mikroskopischen Raum war nicht nur aus technischen wie wahrnehmungspsychologischen Gründen nicht selbstevident, sondern erforderte besondere Anstrengungen der Authentifizierung. Diese wurde bislang durch Handzeichnungen des Mikroskopisten, deren Übertragung in Kupferstiche, sprachliche Beschreibungen und die Bestellung von Augenzeugen bewirkt. Dennoch konnte nicht sichergestellt werden, daß der Augenzeuge dasselbe sah wie der Mikroskop-Experte oder daß der Kupferstich keine Manipulation des Sehbefundes darstellte. Das Sonnenmikroskop nun befreite aus der Intimität des mikroskopischen Sehens und aus der zweifelhaften Transformation in andere Medien. Es erlaubte ein öffentliches Sehen, womit ein wichtiges Merkmal neuzeitlicher Evidenzsicherung ansatzweise in einem Feld gelöst wurde, das dem Verdacht ausgesetzt war, daß hier subjektive, nicht überprüfbare Sehbefunde zur Basis einer neuen Wissenschaft gemacht werden würden.[19] Die Ledermüllersche Transformation des mikroskopischen Sehens in einen öffentlich kontrollierbaren Raum fand ihre endgültige technische Einlösung allerdings erst nach 1850, als Mikroskop und Fotoapparat gekoppelt und Sehbefunde damit auch gespeichert werden konnten. Dies war für die Evidenzerzeugung besonders in der Mikrobenforschung (bei Louis Pasteur und Robert Koch)[20] grundlegend.

Athanasius Kircher: Laterna Magica, in: Ders.: Ars Magna Lucis et Umbrae.

Abb. 9. Athanasius Kircher: Laterna Magica, in: Ders.: Ars Magna Lucis et Umbrae. Rom 1646 (2. Ausg. Amsterdam 1671), 768.


Protoexperimentalismus und Reflexivität der Kunst

Es wurde deutlich, daß in der Frühneuzeit die Wahrheitsevidenzen, trotz immer wieder unternommener christlicher Rahmungen, nicht mehr in der Gewißheit der göttlichen Illumination des einen Kosmos und der einen Vernunft gesichert sind. Auch die sinnliche Wahrnehmung mußte durch technische Instrumentierung geschärft und zugleich in ihrem Zusammenspiel mit den übrigen Erkenntnisvermögen reflektiert werden, um verläßliche visuelle Befunde zu liefern. Der technisch-instrumentellen Beherrschung des Lichtes und des Sehens ging indes eine Phase der malerischen Exploration der visuellen Welt voraus, in der die Behandlung des Lichtes, die Virtuosität veristischer Effekte und optischer Phänomene sowie deren bildimmanente Reflexion eine wesentliche Rolle für den Kunstprozeß spielen. Das beginnt in der Mitte des 15. Jahrhunderts. Die Kunst, so die These, bereitet den optischen Experimentalismus vor, oder auch: die Kunst ist selbst schon eine Art experimenteller Erforschung der visuellen Welt. Gerade darum wird die 'Evidenz', die die Kunst in niemals erreichter Virtuosität erzeugt, zugleich zu ihrem Problem. Dies wollen wir darstellen.

Sonnenmikroskop, aus: Martin Frobenius Ledermüller: Mikroskopische Gemüths= und Augen = Ergötzung.

Abb. 10. Sonnenmikroskop, aus: Martin Frobenius Ledermüller: Mikroskopische Gemüths= und Augen = Ergötzung. Nürnberg 1763, 6, Tafel 1.

Mit Fug steht Jan van Eyck am Anfang. Bei ihm beginnen die metaästhetischen Experimente, die im Dienst der Frage stehen, was ein Bild und was ein Gemälde sei. Dabei spielt das Licht eine erstrangige Rolle, und zwar nicht mehr als metaphysische Luminalität, sondern als natürliches und optisches Phänomen. Der Konkavspiegel an der Rückwand des Hochzeitszimmers (Abb. 11), mit Szenen aus Leben und Passion Christi besetzt, invertiert die Blickachse: Wir sehen nicht nur das frontale Paar 'von hinten' , sondern zudem den Maler, der seine Doppelrolle als pictor und Augenzeuge des Rechtsvorgangs noch dadurch unterstreicht, daß er oberhalb des Spiegels, abweichend zu üblichen Malersignaturen ('me fecit ... '), sich in kalligraphischem Kanzlei-Stil inskribiert: "Johannes de eyck fuit hic 1434".[21] Der Maler authentifiziert nicht nur das Bild durch seine Signatur, sondern er bezeugt als Augenzeuge die Rechtskraft der Situation. Der doppelte Anblick, durch den wir optisch zugleich vor und hinter der Szene sind, Vorder- und Rückansicht haben, ist eine ungeheure Invention in der Geschichte der Malerei. Durch sie wird die Ebene der Darstellung (der descriptio, der Nachahmung) systematisch, d.h. auf allen Ebenen der gegenständlichen Repräsentation, reflexiv gebrochen. Das heißt: Gemälde zeigen niemals nur etwas, sondern sie zeigen sich selbst: das Bild als Bild. Dies gilt für die niederländische Malerei in der Eyck-Nachfolge generell: Zur visuell-optischen Auseinandersetzung gehört die Entdeckung und malerische Beherrschung des Schattens und des Streiflichts (durchs Seitenfenster), die wesentlich zur Plastizität der Dinge und Körper beitragen. Präzise dargestellt sind Lichtbrechung und Schatten des Rosenkranzes oder die Lichteffekte auf dem Kronleuchter. Im Halbdunkel liegt der materialevidente Fußboden, der bei Eyck, Hugo van der Goes, Petrus Christus, Rogier van der Weyden auffällig oft einem völlig neuen Ding-Verismus, einer Aufmerksamkeit für das scheinbar Banale in seiner Singularität und eigenaktiven Physiognomik einen Untergrund bietet: für Holzschuhe und Hund, Blumen, Stroh, Steine u.a.m. Von eminenter Neuheit ist die Valenz, die das Unscheinbare, das Einzelne und Ephemere erhalten. Gegenüber der grosso modo geltenden Abwertung der Dinge, die zuerst und höchstens als Kreationen Gottes oder als Symbole einer sorgsamen Abbildung wert sind, tritt nun die Phänomenalität des Einzelnen, die Physiognomie der Dinge in den Fokus der malerischen Aufmerksamkeit.

Jan van Eyck: Die Hochzeit von Giovanni Arnolfini und Giovanna Cenami.

Abb. 11. Jan van Eyck: Die Hochzeit von Giovanni Arnolfini und Giovanna Cenami, 1434, 82×60 cm, London, National Gallery.

Jan van Eyck: Die Hochzeit von Giovanni Arnolfini und Giovanna Cenami, Detail.

Abb. 11a. Jan van Eyck: Die Hochzeit von Giovanni Arnolfini und Giovanna Cenami, Detail.

Zum visuellen Experimentalismus gehört ferner das Vermögen, Objektfarben und Brechungsfarben interagieren zu lassen. Brechungsphänomene gehören bereits zur bildinternen Erkundung optischer Effekte, die in der malerischen Bewältigung von Spiegelungen, von Glanz und Widerschein, von Schimmer und minimalen Lichtpartikeln (Hund), aber auch von Konvexspiegeln materiell werden. Wie immer dabei der Bildsinn sakralkulturell und theologisch dominiert sein mag: das Gewebe, die Muster und Faltungen von Gewändern, das Metallene des Leuchters, die Materialität des Holzbodens als Schauplatz von Schuhen und Hund in haptischer Spürbarkeit, werden mit derselben ästhetischen Sorgsamkeit behandelt wie die adligen Personen oder, auf Sakralgemälden, die heiligen Gestalten der Bibel selbst: das ist eine ungeheure Sensation in der Welt der Sichtbarmachung, worin sich auf dem Feld der Malerei einhundert Jahre vor der Rehabilitation des antiken Atomismus ein ästhetischer Triumph der Materie vorbereitet.

Petrus Christus: St. Eligius in seiner Werkstatt, 1449.

Abb. 12. Petrus Christus: St. Eligius in seiner Werkstatt, 1449, 98×85 cm, New York, Metropolitan Museum.

Dabei bringen gerade Konvexspiegel (zumeist geschliffene Metallsphären) durch ihre andere Raummatrix die Erfahrung ins Spiel, daß das bildbeherrschende, meist zentralperspektivische Raummodell auf Konventionen beruht und nicht die 'Wiedergabe' des natürlichen Sehfeldes ist (Abb. 12). Auf dem Gemälde von Petrus Christus verdienen, unter dem Aspekt von Licht und Optik, die Spiegelungen und Schimmereffekte, die Lichtbrechungen und Schattenwürfe, eine besondere Sorgsamkeit. Lichträumlichkeit evident zu machen, schließt ferner ein, daß ästhetische Momente des Taktilen, wie Schwere oder Leichtigkeit, Härte oder Weichheit von Gegenständen und Körpern ins Optische übersetzt und malerisch beherrscht werden. Mit stupender Virtuosität arbeitet Petrus Christus an der spezifischen Materialität der Dinge, wozu hier natürlich auch die Stoffe der Kleider gehören, doch auch das Hochzeitsband auf dem Tisch, das im Kleinen eine eigentümliche Fältelung des Raumes aufführt. Das Visuelle arbeitet mit dem Haptischen, das ohnehin durch die Hände betont ist, zusammen, als hätte Petrus Christus schon von Voltaires Diktum gehört: den "Händen der Erfahrung" ("les mains de l'experience").[22] Diderot sagte über den blinden Mathematiker Saunderson: "Saunderson sah also mit der Haut".[23] Und bei Georg Büchner sagt Marion zu Danton: "Danton, deine Lippen haben Augen!"[24] Ähnlich kann man hier schon bei Petrus Christus von einem taktilen Sehen sprechen, und dieses hängt wesentlich mit der neuen Technik der Skulpturalisierung der Dinge durch Licht zusammen.

Quentin Massys: Der Geldleiher und seine Frau, 1514.

Abb. 13. Quentin Massys: Der Geldleiher und seine Frau, 1514, 71×68 cm, Paris, Musee du Louvre.

Quentin Massys: Der Geldleiher und seine Frau, Detail.

Abb. 13a. Quentin Massys: Der Geldleiher und seine Frau, Detail.

Von unübertrefflicher Feinheit ist die Darstellung der Hände und des Haptischen im Gemälde Der Geldverleiher und seine Frau von Quentin Massys (Abb. 13). Wenn sich auch hier eine besondere Luminalität der Dinge zeigt - der Schimmer der Münzen und Perlen auf dem Tisch, die Lichtpunkte auf den Edelsteinen der Ringe oder auf den Nägeln, mit denen der lederbespannte Tisch beschlagen ist, das Lichtspiel auf den Gewichten der Waage, die Lichtbrechung im geschliffenen Glaspokal, die Schattenwürfe der Dinge: es ist, als trete zu dieser Luminalität das Haptische in Wettstreit um den ersten Rang in der Erzeugung sinnlicher Evidenz. Mit welch fühlbarer Sensibilität die Hände ihr profanes oder frommes Werk verrichten - das Auswägen der Münzen hier, das Umblättern im kostbaren Marienpsalter dort, wobei die rechte Hand versehentlich die Seiten staucht: das demonstriert im Feld der Visualität eine perfekte Beherrschung auch des Tactus, wodurch die Malerei den ersten Rang im Paragone der Künste behauptet. Denn es geht auch hier, wo Kapital und Frömmigkeit auf einen Schauplatz zusammengedrängt werden, um eine Selbstthematisierung der Kunst. Der Konvexspiegel ist nicht nur ein 'Spion' zur Kontrolle der Außenwelt des Händlers (wie bei Petrus Christus); der Spiegel ist nicht nur eine optische Variante der Raumkonstruktion; er ist nicht nur ein 'Bild im Bild' (das sich uns, aber nicht dem Geldwechsler zeigt). Sondern wir sehen durch das offene Fenster auf die Außenwelt und am Fenster den daran sitzenden Maler bei der Arbeit. Das Froschauge des Spiegels bringt eine bildimmanente Selbstreflexion ins Spiel: man sieht, wie bei van Eyck, den Maler, der eigentlich bei jedem Bildwerk unsichtbar, weil ins Werk entäußert ist. Nun erst realisiert man, daß der Marienpsalter ebenfalls ein 'Bild' enthält: Maria mit Jesus auf den Knien in vertikaler Drehung und perspektivischer Schräge. Und die offene Tür im Hintergrund gibt, als Durchblick, ein fünftes 'Bild' zu sehen: eine Straßenszene mit zwei in lebhaftem Gespräch begriffenen Männern. Es gilt folglich, fünf verschiedene 'Bilder' zu realisieren, die in differenter Räumlichkeit gegeben, und auf unterschiedlicher ontologischer Ebene situiert sind. Dadurch kommt für uns jene Reflexivität ins Spiel, die mit der Selbstspiegelung des Malers beginnt. Evidenz ist sicherlich schon durch den ersten Anblick des Gemäldes gleichsam plan gegeben. Doch sie wird durch die vielen kleinen optischen und reflexiven Manöver vielfach gebrochen und gerade dadurch als Leistung und nicht als fraglose Gegebenheit begreifbar gemacht.

Hans Memling: Ditypchon von Maarten Nieuwenhove, 1487.

Abb. 14. Hans Memling: Ditypchon von Maarten Nieuwenhove, 1487, jeweils 52×41,5 cm, Brügge, Memlingmuseum, Sint-Janshospitaal.

Hans Memling: Ditypchon von Maarten Nieuwenhove, Detail.

Abb. 14a. Hans Memling: Ditypchon von Maarten Nieuwenhove, Detail.

Hans Memling wiederum bietet, vor dem Hintergrund der Erfindungen van Eycks, auf dem Diptychon für den Stifter Maarten van Nieuwenhove (1455-1500) eine raffinierte Komposition. Das zweigeteilte Bild präsentiert den 23-jährigen Stifter in Dreiviertelansicht sowie Maria mit Kind (Abb. 14). Links oberhalb der Schulter Mariens zeigt der Konvexspiegel eine andere, invertierte Raumsituation: den Stifter und Maria in einem Raumkontinuum, und zwar so, daß Nieuwenhove Maria genau von der Seite anschaut. Wenn man als Betrachter einen Standort weit links vom Diptychon einnimmt, macht man eine erstaunliche Erfahrung: die schräge Fensterfront im rechten Flügel bildet mit der Rückwand des Marienteils einen 90-Grad-Winkel und stellt damit die Raumsituation des Spiegels dar. Nieuwenhoove schaut zwar aus dem rechten Bild heraus in eine unbestimmte Ferne - doch er sieht zugleich Maria mit dem Kind. Die raffinierte Raumdarstellung ermöglicht das Zugleichsein zweier Blicke: das unbestimmte Sehen in eine Ferne und die Vision der Maria, die aus dieser Ferne herkommt und den Nahraum des Zimmers erfüllt. Wie im Rolin-Gemälde van Eycks so ist auch hier die Madonna mit Kind eine Epiphanie, die sich dem Auge des Stifters darstellt: doch wir sehen beides, den Stifter und sein 'inneres' Bild, wir sehen also auch hier das Sehen, mit Fludd zu reden: mundus sensibilis und mundus imaginabilis zugleich. Die Brüstung, auf der Jesus sitzt und auf der die Bibel von Nieuwenhoove plaziert ist, wird von der Mittelachse des Diptychons durchbrochen und ist doch ein Kontinuum, nämlich die Brüstung vor zwei Fenstern, wie der Konvexspiegel erkennen läßt. Wir, als Betrachter, stehen also vor zwei Fenstern, die zwei Bilder sind. Die beiden auf unterschiedlichen ontologischen Ebenen liegenden Ereignisse werden in ein Raumkontiuum gesetzt und doch wieder getrennt: die kontemplative Andacht Nieuwenhoves und die Vision Marias. Zugleich schauen wir durch die hinteren und seitlichen Fenster des Raums, in den wir durch die Bildfenster hineinschauen, wieder hinaus auf die Welt. Präzise Optik und visionäre Schau, rationale Konstruktion des Profanraums und mystische Verrückung in einen Sakralraum, realistische Treue und spirituelle Andacht bilden eine Zweieinheit, deren Arkanum sich erst durch den im Spiegel offenbarten Blick vom Rücken her erschließt. Sakrale Bildrnacht heißt, daß Bilder die Heiligkeit des Abgebildeten inkorporieren und dadurch selbst zu Verehrungsobjekten oder Heiltümern werden konnten. Der Einzug der Dinge in die Welt der Bilder heißt dagegen, daß diese nicht mehr nur Medien der Weltübersteigung, sondern der Weltzuwendung sind. Die Performativität der Bilder besteht nicht mehr erstrangig darin, Prozesse andächtiger Kontemplation des Heiligen zu disponieren, sondern auch Erfahrungen eines neuen und uralten, nämlich des apophantischen Logos freizusetzen: Indem die Dinge in ihrer Dinghaftigkeit in Erscheinung treten, ins Licht ihrer spezifischen Wahrheit, gewinnt der Bildbetrachter die Möglichkeit, sich selbst in der Ordnung der Dinge und der ihnen zugeordneten Praxen zu situieren. In der profanen Erleuchtung öffnet sich der Horizont der Welt, zu der die metaphysische Vertikale bildimmanent dazugehört.

Pieter Claesz: Vanitas-Stilleben, um 1628-30.

Abb. 15. Pieter Claesz: Vanitas-Stilleben, um 1628-30, 36×59 cm, Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum.

Pieter Claesz: Vanitas-Stilleben, Detail.

Abb. 15a. Pieter Claesz: Vanitas-Stilleben, Detail.

Raum- und lichtverzerrende Spiegelungen finden sich auch im Genre des Stilllebens. So plaziert Pieter Claesz in einem Vanitas-Tableau von 1628-30 (Abb. 15) hinter einen Chronometer, dessen Werk, der Vanitas entsprechend, wohl abgelaufen ist, eine polierte Metallsphäre, die den Raum in konvexer Spiegelung wiedergibt. Man erkennt den Maler, wie er das Gemälde bearbeitet und auf die Spiegelkugel blickt, die sicher auch die Fortuna-Kugel assoziieren läßt. Das gespiegelte Fenster wiederholt sich im Deckelinneren des Chronometers. So wird die Vanitas-Thematik mit einem optischen Experimentalismus ebenso verbunden wie die Selbstreflexion im Zeichen des Todes mit der Reflexion der Kunst konvergiert, die eben diesen Tod überdauern wird.

Malteserkreuz, Muschel und Marienkäfer, aus: Joris Hoefnagel/Georg Bocskay: Mira calligraphiae monumenta, 1561-1562 (Bocskay) und 1591-1596 (Hoefnagel).

Abb. 16. Malteserkreuz, Muschel und Marienkäfer, aus: Joris Hoefnagel/Georg Bocskay: Mira calligraphiae monumenta, 1561-1562 (Bocskay) und 1591-1596 (Hoefnagel), 16,8×12,5 cm, Los Angeles, J. Paul Getty Center, Ms. 20, fol. 27’. (Seite und Rückseite)

Zwei Generationen früher verfügte Joris Hoefnagel bei seiner von Rudolph II. in Auftrag gegebenen Illustration des Schriftmuster-Buches von Georg Bocskay bereits über einen malerischen Blick, der Kleintiere, die bisher kaum einer ästhetischen Aufmerksamkeit für würdig befunden wurden, mit einer physiologischen Genauigkeit darzustellen weiß, die wie unter dem Vergrößerungsglas erzielt scheint (Abb. 16). Hoefnagel ist ein genialer Morphologe botanischer und zoologischer Entitäten im kleinsten Format, wodurch er zu den bedeutenden Vorläufern der wissenschaftlichen Illustration zu zählen ist.[25] Dabei geht es ihm allerdings nicht um korrekte Größenrelationen oder natürliche Habitate. Vielmehr zeigen die Maßstabsveränderungen innerhalb derselben Bildebene, daß Hoefnagel vielleicht schon mit Vergrößerungslinsen gearbeitet hat, in jedem Fall aber seine Objekte ästhetisch und nicht biologisch arrangiert.

* Hartmut Böhme; Das reflexive Bild: Licht, Evidenz und Reflexion in der Bildkunst — Pluralisierung & Autorität, Band 9, Evidentia - Reichweiten visueller Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit, Lit Verrlag Münster 2007, S. 343-356.

Das reflexive Bild: Licht, Evidenz und Reflexion in der Bildkunst (Teil 3)


[15] Pfauen sind eigentlich Attributtiere der Hera. Daß sie hier erscheinen, ist daraus zu erklären, daß Hera den Pfauen, nachdem Hermes den Argus im Auftrag von Zeus getötet hatte, dessen Augen auf die Schweiffedern setzte.
[16] Kircher 1665.
[17] Sehr schön sind diese technischen Geräte zu Bezauberung unseres visuellen Evidenz-Sinnes in der Sammlung Werner Nekes zu studieren, die 2004-2006 in Köln, London und Hamburg gezeigt wurde, Dewitz/Nekes 2004, hier: 114-145. Wegen der bevorzugten Geister- und Höllenthematik, die dem verbreiteten "Theater des Schreckens" angehören, wurde die Laterna magica auch "lantern of fear" genannt. Diesem Typ gehört auch Kirchers Darstellung an.
[18] Ledermüller 1763, S. 6, Tafel 1.
[19] Vgl. dazu Böhme 2003.
[20] V gl. dazu Briese 2003, hier: 348 ff.
[21] Vgl. Yiu 2001; BeltingiKruse 1994; Sebkova-Thaller 1992; Hall 1997; Ketelsen 2005.
[22] Voltaire meint damit, daß das 'Handgreifliche' die Quelle zuverlässiger Erkenntnis sei: Hände sind die Metapher für sinnliche Erkenntnis überhaupt.
[23] Utz 1990,20. Diderot 1984,77. Ebd., 78 läßt er Saunderson sagen: "Wenn Sie wollen, daß ich an Gott glaube, müssen Sie mich ihn fühlen lassen." ("Si vous voulez que je croie en Dieu, il fout que vous me le jassiez taucher.").
[24] Büchner 1979, 22.
[25] V gl. das Faksimile HoefUagel/Bocskay 1992. Ferner: Vignau-Wilberg 1994.