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Konstruktion der Dynamischen Vierdimensionalen Bewegungsdarstellung in der Malerei

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Konstruktion der Dynamischen Vierdimensionalen Bewegungsdarstellung in der Malerei

Vera Almasy (1890-1971)
2012, oil on canvas, 19×23 cm

Konstruktion der Dynamischen Vierdimensionalen Bewegungsdarstellung in der Malerei

Vera Almasy (1890-1971)


Konstruktion der Dynamischen Vierdimensionalen Bewegungsdarstellung in der Malerei

BIBLIOGRAPHIES

 

 

Ulla Schrägle
Van Doesburg*

Die Konstruktion von Bewegung

Van Doesburgs Tanz-Bilder wiesen von Beginn an strenge Gestaltungselemente auf, die auf Reduktion, Objektivität und Statik beruhten. Tänzerinnen, Tanz I und Tanz II sind z.B. ausschließlich aus reinen geometrischen Formen wie Dreiecken und Halbkugeln aufgebaut, die sich voneinander versetzt um eine Mittelachse gruppieren. Van Doesburg arbeitete also ebenfalls mit geometrischen Formkontrasten. Wie schon bei Severinis Kraftlinien ist bei ihm die Diagonale als dynamisches Element vorherrschend, wie z.B. in einer vorbereitenden Studie zu Tänzerinnen zu sehen ist. Hier wird die Bewegung der Figur durch die Diagonale übertragen. Im Gegensatz zu Severinis Werken sind van Doesburgs geometrische Formen allerdings in sich statisch abgeschlossen, wodurch keine Öffnung der Objekte in den Raum und keine Metamorphose der Elemente stattfinden kann. Auch vermied er durch flächigen Farbauftrag die Plastizität der Formen, welche Severini mit Licht-/Schattenwirkung erzielt hatte. Schon diese gestalterischen Anfänge des Tanzmotivs deuten darauf hin, dass für seine Interpretation objektive, minimalistische und in sich statische Formen grundlegend waren.

Zwischen 1917 und 1918 begann sich in van Doesburgs Werk ein konkretes Schema von Bewegungsdarstellung abzuzeichnen, das für alle nachfolgenden Bilder als Konstruktionsplan fungieren sollte. Dieses Konzept leitet sich von den wissenschaftlichen Ansätzen der dynamischen Vierdimensionalität ab. Dazu verfolgte er zunächst eine weitere Reduktion der Formen, bis hin zur geradezu puristischen Verwendung ausschließlich vertikaler und horizontaler Striche, siehe Tarantella und Rhythmus eines russischen Tanzes. Die Dynamikinterpretation anhand der Diagonalen musste verständlicherweise wegfallen. Die ausschließliche Verwendung der Vertikalen und Horizontalen entspricht der Bildung des größtmöglichen Formkontrasts, was zum einen für das auf das Elementare reduzierte Stijlsche Harmonieprinzip wichtig war und zum anderen den größtmöglichen Spielraum für Bewegung schaffte. Dieser bildete ein Grundelement in van Doesburgs Konzept, das Joost Baljeu folgendermaßen anschaulich beschrieb:[178] Er ging vom Hintonschen ‚Hyperkubus’ aus, dessen Flächen, und somit dessen feste Struktur, er auflöste, indem er die Seitenlinien voneinander abtrennte. Eine Räumlichkeit war nun nicht mehr definiert und die Linien befanden sich frei schwebend, wobei zwischen ihnen der maximale Bewegungsspielraum entstanden war. Das Verfahren beabsichtigte die Auflösung von Räumen, um eine bewegte Durchdringung des Bildes zu ermöglichen, was Baljeu als „Durchströmung“ bezeichnete.[179] Um diese nicht zu unterbrechen, arbeitete van Doesburg ausschließlich mit freien Linien und vermied starre Flächen und Körper.

Theo van Doesburg, Komposition XI, 1918, 57×101 cm

Theo van Doesburg, Komposition XI, 1918, 57×101 cm

Das gedankliche Grundkonzept entsprach somit einem pseudonaturwissenschaftlichen Ansatz zur objektiv nachvollziehbaren, geometrischen Konstruktion der dynamischen Vierdimensionalität. Dieses Gerüst bildet eine Entsprechung zu mechanischen Grundsätzen, deren Basis stets mathematischnaturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten sind. Die von van Doesburg erdachte ‚Gesetzmäßigkeit’ der Bewegungsdarstellung sollte nun in fertigungsmechanischer Manier als Konstruktionsplan oder Schablone für die einzelnen Werke dienen.


‚Rhythmus eines russischen Tanzes’ – die rhythmische Interpretation

In Rhythmus eines russischen Tanzes wurde das von Baljeu beschriebene Konzept verwirklicht. Dabei ist auffällig, dass die frei schwebenden Balken durch unterschiedliche Längen und unterschiedliche Farben markiert sind, was dafür spricht, dass sie einander zuordenbar sind, entsprechend verschiedener Sequenzen in einem Rhythmus, die sich nach einer bestimmten Regel wiederholen.

Theo van Doesburg, Rhythmus eines russischen Tanzes, 1918

Theo van Doesburg, Rhythmus eines russischen Tanzes, 1918

Karin Adelsbach lieferte hinsichtlich der rhythmischen Komponente des Bildes eine Interpretation, die von der Motorik eines tanzenden Körpers ausgeht.[180] Sie stellte fest, dass van Doesburg in den Vorstudien zunächst die Mittelachse festlegte und daran die Körperverlagerungen zu beiden Seiten aufzeichnete. Die Figur wurde nach dem Gleichgewichts-Prinzip positioniert, d.h. eine ausladende Geste auf der einen Seite steht einer hemmenden Geste auf der anderen gegenüber.[181] Es entstand ein geometrisches Raster von ausbalancierten Rechtecken. Die Farbgebung ließ dabei die Rhythmisierung und das ordnende Muster entstehen. Schwarz und Blau symbolisieren die Schwer- und Ruhepunkte der Bewegung. Diese Farbbalken laufen auf das Zentrum des Bildes zu und stellen somit die Grundstruktur des Körpers dar. Die roséfarbenen Linien zeigen die verschiedenen Bewegungspositionen des Tänzers. Die gelben Balken stehen für Raumsegmente, die keine Körperteile vertreten und zur Ausbalancierung der Komposition dienen. Es fand demnach eine Übertragung der dynamischen Pose des Tänzers in ein statisches orthogonales Gerüst statt.

An diesem Punkt wird van Doesburgs Bezug zur ‚Tanzschrift’ Rudolf von Labans deutlich, der ebenfalls die vertikale „Schwerlinie“ betont hatte, die den Körper in zwei Hälften teilt und an der jede Gewichtsverlagerung spiegelbildlich durch eine andere ausgeglichen werden muss. Besonders die Farben und die Längen der Symbole spielen in seiner ‚Tanzschrift’ eine wichtige Rolle. Die Farben geben den Grad der Intensität und Ausdrucksqualität der Bewegung an und die Längen der Zeichen stehen für die Zeitdauer der Bewegung. Somit sind die Farbbalken in van Doesburgs Bildern als eine Rhythmisierung von körperlicher Bewegung zu interpretieren. Der Einfluss des Labanschen Systems auf van Doesburg erscheint plausibel, auch wenn er im Werk des Künstlers nur in Rhythmus eines russischen Tanzes und in etwas differenzierter Form in Tarantella sichtbar wurde und sich damit zeitlich auf das Jahr 1918 begrenzte.[182]


Das Problem um Linie, Farbe und Fläche

Für das Konzept der ‚bilddurchströmenden’ Bewegung ergab sich ein Problem, als Farbe ins Spiel kam, da ja van Doesburg analog zum Purismus der Formen eine puristische Verwendung der Farben verfolgte, d.h. einen flächigen Farbauftrag. Weil er auch Schattierungen oder fließende Übergänge ablehnte, entstand mit Verwendung von Farbe zwingend eine zweidimensionale Fläche. Sobald sich nun zwei Farbflächen im Bild befinden und sich überlappen, werden Raumpositionen definiert, da eine Fläche näher als die andere wahrgenommen wird und umgekehrt, also eine Abhängigkeit der Elemente gegeben ist. Dies bedeutet, dass ein absolut freier Bewegungsstrom durch das Bild nicht mehr möglich ist. Van Doesburg vermied eine perspektivische Beziehung der Bildelemente, was die konsequente Absenz räumlichplastischer Körper in seinen Bildern erklärt.

Theo van Doesburg, Tarantella (Studie), 1918

Theo van Doesburg, Tarantella (Studie), 1918

Das Problem der Räumlichkeit wird in Komposition XIII deutlich: Überlappen sich Farbflächen, werden Positionen im Raum fixiert; werden die Farbfelder nebeneinander gereiht, ergibt sich eine große Fläche, die jegliche Bewegung unterbindet. Um diesen beiden Tendenzen entgegenzuwirken, versuchte van Doesburg die Felder durch Linien abzuteilen, was zur Folge hatte, dass sowohl Flächen als auch Linien nicht mehr frei schwebend waren, sondern zwangsläufig eine statische Gitterstruktur bildeten. Als Lösung dieses Problems schlug er in Rhythmus eines russischen Tanzes die Reduktion der Farbflächen auf Balken oder Striche vor. Es hat jedoch den Anschein, dass ihn diese Ausführung in puncto Farbigkeit nicht befriedigte, denn er gestaltete, wie Komposition XI zeigt, die Farbbalken von Bild zu Bild üppiger, so dass sie eigentlich wieder zu Flächen wurden. Van Doesburg war also mit seinem Konzept der Bewegungskonstruktion in der Malerei auf ein Problem gestoßen, das er offensichtlich nicht befriedigend lösen konnte, denn am Ende der Versuche stand die Abkehr von der Vorstellung der malerischen Darstellung des vierdimensionalen Bewegungsraumes. Ab 1919 waren seine Werke geprägt von nahtlos in eine gleichmäßige Gitterstruktur eingesetzten Farbflächen, wie Komposition XVI in Dissonanten und Komposition XVII. An diesem Punkt wurde der Gedanke der objektiven vierdimensionalen Bewegungsdarstellung von Studien harmonischer Farbbeziehungen abgelöst.


Komposition in Grau – Ragtime

Nach dem Scheitern seines Konstruktions-Konzepts von Dynamik lieferte van Doesburg 1919 mit Komposition in Grau – Ragtime, zu dem auch eine Vorstudie existiert, einen veränderten Ansatz zur Visualisierung von Bewegung. Das Werk arbeitet mit einer Gitterordnung, in die Flächen eingebaut sind, die wiederum eine Binnenstruktur enthalten. Die Bewegung findet nun nicht mehr mittels frei schwebender Bildelemente statt, sondern durch Hell-/Dunkelkontraste innerhalb der Felder.[183] Der schleichende Übergang zwischen Licht und Schatten hebt den starren Eindruck von Flächigkeit auf. Im Prinzip ist dies die gleiche Technik, die Severini zur Erzeugung von Plastizität verwendet hatte. Sie kommt bei van Doesburg allerdings nicht so stark zur Geltung wie bei Severini, da Ragtime nicht aus freien geometrischen Körpern besteht. Jedoch ist im Vergleich zur sonst bei ihm vorherrschenden Flächigkeit eine leichte Plastizität erkennbar, wenngleich Ragtime das einzige Werk blieb, in dem er die Schattierungstechnik benützte. Es ist auffällig, dass generell im Stijl niemals mit Licht- und Schattenwirkung gearbeitet wurde, weshalb man annehmen kann, dass van Doesburg diese Technik zugunsten des Stijlschen Reinheitsprinzips von Form und Farbe verwarf. Nach Ragtime widmete er sich ganz einer Malerei der flächigen Gitterstrukturen, wobei das Thema Tanz keine Rolle mehr spielte.

Theo van Doesburg, Komposition XVI in Dissonanten, 1925

Theo van Doesburg, Komposition XVI in Dissonanten, 1925

Ein Element aus Ragtime behielt er allerdings in seinem weiteren Werk fast mit Starrsinnigkeit bei: die Diagonale, die ja schon in Tanz I und Tanz II die Dynamik der Bilder bestimmt hatte. In Ragtime nun sind die Schattierungen in den Feldern überwiegend so angebracht, dass diagonale Streifen entstehen. Die Diagonale als Bewegungselement fand hier ihre Rückkehr in das Werk van Doesburgs. Sein weiteres Beharren auf der Diagonale als Ausdruck von Bewegung war einer der Streitpunkte mit Mondrian, die schließlich zum künstlerischen Zerwürfnis der beiden führten.[184]


Annäherungen und Streitfragen zwischen van Doesburg und Mondrian – ein Exkurs

Am Anfang der Beziehung van Doesburgs und Mondrians stand die gleiche künstlerische Idee: Bewegungsdarstellung. Mondrian hatte sich schon seit 1915 mit der ‚Durchströmung’ des Raumes als Ausdruck der ‚vierten Dimension’ beschäftigt, v.a. in der Serie Pier und Ozean. Dabei kennzeichnete er die bilddurchströmende Bewegung eher als ein harmonisches Gleichgewicht und verzichtete dementsprechend auf eine rhythmisierende Darstellungsweise, wie sie van Doesburg vertrat. Mondrian ließ sehr früh von dem Konzept der Vierdimensionalität ab und forderte die konsequente Wahrung der Zweidimensionalität des Mediums Malerei. 1918 schrieb er an van Doesburg: „Ich interessiere mich sehr für dein Schreiben [sic - gemeint ist wohl „Streben“] nach der vierdimensionalen Einsicht, aber ich denke, daß wir nicht viel von der Vierdimensionalität gestalten können, weil es dafür ein anderes Organ braucht [...]“.[185] Nach den frühen Versuchen zur Bewegungsdarstellung gab Mondrian das Thema auf. Er widmete sich seitdem hauptsächlich der Aufdeckung ‚universaler Harmonie-prinzipien’, die er durch statische Flächigkeit darzustellen versuchte. Mondrian fasste Kunst nicht als Gestaltung elementarer Formen auf, sondern als Darstellung des Gleichgewichts elementarer Verhältnisse. Insofern kann van Doesburgs Abwendung von Bewegungsdarstellung und die damit einhergehende Verwerfung des Tanzmotivs im Jahr 1919 als Hinwendung zu Mondrians künstlerischer Position aufgefasst werden.

Im Gegensatz zu jenem konnte sich van Doesburg allerdings nie vollständig von der Idee der Dynamik im Kunstwerk trennen, da er nicht davon überzeugt war, dass sich der menschliche Geist ‚bloß’ mit harmonischem Gleichgewicht à la Mondrian zufrieden geben würde. Aus diesem Grund blieb die Diagonale weiterhin ein wichtiges Element seiner Werke. Ab der Entwicklung seines Elementarismus-Konzepts mit dem Architekten van Eesteren 1923 betrachtete er die Diagonale als ein Zeichen des dynamischen Geistes. Cor Blok beschrieb van Doesburgs Einstellung so: „[...] die Evolution führt nicht zum primordialen Gleichgewicht zurück (Mondrian), sondern der Geist wird seinen Standort ewig wechseln und immer neue Dimensionen aufschließen; die Kunst ist somit der Trägheit der Natur [Horizontal-Vertikal] entgegengesetzt.“[186] Von Mondrian wiederum, der auf die ausschließliche Verwendung von Vertikaler und Horizontaler beharrte, wurde die Diagonale kategorisch abgelehnt und als „Häresie“ bezeichnet. Das führte letztendlich gemeinsam mit van Doesburgs Postulierung der „konkreten Kunst“ zum Bruch zwischen den beiden Künstlern und dem Austritt Mondrians 1925 aus De Stijl.[187]

Es gab noch einen weiteren ständigen Streitpunkt zwischen den beiden: die Ausweitung der künstlerischen Darstellungsmittel auf die Architektur. Während Mondrian an die Überlegenheit der malerischen Gattung glaubte und sich ausschließlich auf diese konzentrierte, sah van Doesburg die neoplastizistische Malerei als eine Durchgangsstation zu kreativer Harmonie in allen Kunstformen, insbesondere in der Architektur. In dieser Haltung lässt sich auch erkennen, dass er dem Futurismus wesentlich näher stand als Mondrian.


Bewegungsdarstellung in der Architektur

1916 hatte van Doesburg begonnen sich mit Architektur zu beschäftigen, wobei zunächst dekorative Detailarbeiten wie Mosaike, Kacheln und Glasmalereien im Vordergrund standen. Nachdem er 1919 zu dem Schluss gekommen war, dass die Malerei als zweidimensionales Medium für die Umsetzung seines Konzepts der dynamischen Vierdimensionalität ungeeignet war, wandte er sich mit gesteigertem Interesse der Architektur zu.

Die Farbgebung spielte dabei eine wichtige Rolle. Werner Hofmann[188] beschrieb anschaulich van Doesburgs Entwurf einer ‚Farb-Architektur’: Die architektonische Konstruktion wurde in farblich differenzierte Abschnitte geteilt, um die statische Wand auf diese Weise durch die Farbanordnung zu ‚rhythmisieren’, wodurch Farbe zum Baustoff und der Bau zum dreidimensionalen Gemälde wurde. In einem Artikel über Farbdynamik in der Architektur schrieb der Künstler:

Diese Bewegung ist natürlich keine optisch-materielle, sondern eine ästhetische, und weil sie eine ästhetische ist, muß sie, den Gesetzen der Malerei entsprechend, durch Farbbeziehung dargestellt, durch eine Gegenbewegung zur Ruhe gebracht werden.[189]

Ein Beispiel für dieses Konzept ist die Entwurfszeichnung Kontra-Konstruktion von 1923, worin zu sehen ist, wie van Doesburg versuchte, Flächen möglichst frei im dreidimensionalen Raum schweben zu lassen und die Farben in Beziehung zueinander anzuordnen. Inwieweit die Umsetzung gelungen ist, kann in diesem Rahmen nicht erörtert werden und ist nicht entscheidend. Festzuhalten gilt es, dass er seine Suche nach vierdimensionaler Darstellbarkeit in die Architektur verlagerte und glaubte, dort sein Konzept der Bewegungsdarstellung adäquater verwirklichen zu können.

Einer wichtigen Arbeit dazu stellt die Umgestaltung des Tanzcafés Aubette an der Place Kléber in Straßburg dar. Dort war van Doesburg 1926-28 zusammen mit Hans Arp und Sophie Taeuber tätig.[190] Dieses Projekt hat in einem erweiterten Sinn mit Tanz zu tun, nicht als Motiv, sondern als Grundthema für räumliche Bewegung. Bei der Betrachtung des Kino- und Tanzsaals des Aubette fällt auf, dass sämtliche Gestaltungselemente betont frei angebracht sind, wie z.B. die Trennwände, die fast frei im Raum stehen, und die Farbflächen an den Wänden, zwischen denen immer ein weißer Spielraum freigelassen wurde. Es lässt sich hier wieder die bewegte ‚Durchströmung’ des Raumes nach Baljeu feststellen. Des Weiteren sticht bei der Wandgestaltung die Betonung der Diagonalen als ein weiteres dynamisches Moment der Komposition ins Auge. Auch die Verwendung von leuchtenden Farbflächen sollte Bewegung erzeugen: „Es entstand eine Beziehung von Farbe zum Raum und vom Mensch zur Farbe. Durch diese Beziehung des ‚bewegenden Menschen’ zum Raum ergab sich eine neue Empfindung in der Architektur [...].“[191]


Farbgestaltung

Hinsichtlich ihrer Farbgebung waren van Doesburgs Tanz-Bilder anfänglich von Primärfarbigkeit geprägt. Dies entsprach der Einstellung des Stijls, der während seiner Gründungszeit u.a. auch in puncto Farbe von dem holländischen Philosophen Matthieu H.J. Schoenmaeker beeinflusst wurde. Dieser schrieb: „The three principal colours are essentially, yellow, blue and red. They are the only colours existing […].“[192] Diese Vorstellung spiegelt sich in van Doesburgs Tanz I und Tanz II wider, die bis auf eine kleine orange Stelle in Tanz II ausschließlich aus Primärfarben zuzüglich Schwarz und Weiß bestehen; ebenso prägte die Primärfarbigkeit seine ‚Farbarchitektur’.

Eine davon abweichende Phase ist in van Doesburgs Werk zwischen 1918 und dem Anfang der 1920er Jahre erkennbar, als er auf der einen Seite ganz auf Farbigkeit verzichtete, wie in Tarantella und Ragtime, und andererseits mit pastelligen Primärfarben arbeitete, wie in Rhythmus eines russischen Tanzes und Komposition XI. Diese Tendenz ist, wie möglicherweise auch bei Mondrian, auf eine phasenweise Hinwendung zur wissenschaftlichen Farbenlehre Wilhelm Ostwalds (1853-1932) zurückzuführen. Der Chemiker, der 1909 den Nobelpreis erhielt, stützte seine Lehre auf ein neues Verständnis von Farbharmonie.[193] In seinem System galt der Leitsatz „Harmonie=Ordnung“ und schockierende Farbkontraste sind die Antithese von Ordnung.[194] Dies kam van Doesburgs Streben nach Konstruktivität sehr entgegen.

Nach Ostwald konnte eine Balance nur durch Weiß- und Schwarzbeimischung zustande kommen, gemäß seiner Formel: „r+w+z=1“ (Reinheit + Weißanteil + Schwarzanteil = Einheit).[195] Außerdem änderte Ostwald die Einteilung in Primär- und Sekundärfarben entsprechend der Wahrnehmung der Farben, wobei nach seiner Theorie sechs Farbwahrnehmungen möglich waren: die achromatischen: weißlich und schwärzlich; und die chromatischen: gelblich, rötlich, bläulich und grünlich. Das Grün ist deshalb in dieser Ordnung zu finden, da es bei seiner Wahrnehmung keinen anderen beigemischten Farbton erkennen lässt. Praktisch spiegelte sich van Doesburgs Bezug zu dieser Farbenlehre in seinen Werken derart wider, dass neben pastelligen Tönen auch vermehrt Grün eingesetzt wurde, z.B. in Komposition XVI in Dissonanten und in Komposition XVII. Der Verzicht auf Farbigkeit in Tarantella, Komposition XIII und Komposition in Grau-Ragtime geht wiederum auf Ostwalds Aufwertung der achromatischen Farbwahrnehmung und seiner dazu vorgeschlagenen Grauskala zurück.[196]

Es ist bezeichnend, dass sich besonders van Doesburg Ostwalds System der neuen wissenschaftlichen Ordnung der Farben zuwandte und von der philosophisch geprägten Farbauffassung des Stijl Abstand nahm. Seine ideologische Grundeinstellung bestätigt sich somit auch in seinen naturwissenschaftlich geprägten Prinzipien der Farbgestaltung.

Van Doesburg ging also in der Farb- und Formgestaltung seiner Tanz-Bilder gemäß der mechanistischen Auffassung von Kunst überwiegend konzeptuellkonstruktiv vor, wobei er einen gedanklichen Konstruktionsplan entwickelt hatte, der auf dem Versuch basierte, rhythmische Bewegung als vierte Dimension in geometrisch-wissenschaftlicher Nachvollziehbarkeit zu visualisieren. Jedoch konnte dieses Konzept nur in Rhythmus eines russischen Tanzes auf Kosten starker farblicher Reduktion realisiert werden. Aufgrund weiterer technischer Probleme bei der Anwendung seines Konstruktionsplans verwarf van Doesburg schließlich sein Konzept der ‚vierdimensionalen’ Bewegungsdarstellung in der Malerei und übertrug es auf die Architektur. Er zog es also vor, das Medium zu wechseln, anstatt auf sein konstruktives Konzept zu verzichten. Es wurde damit deutlich, dass der Gedanke von Mechanisierung nicht nur in seiner theoretischen Position, sondern auch in seiner Arbeitsweise und Gestaltung das vorherrschende Prinzip darstellte.

* Ulla Schrägle; Das Tanzmotiv bei Gino Severini, Theo van Doesburg und Man Ray, LMU-Publikationen / Geschichts- und Kunstwissenschaften Nr. 8 (2003), S. 58-67.


Anmerkungen:

[178] Baljeu (1968) 10 ff.
[179] Baljeu (1968) 10.
[180] Adelsbach (1996) 24.
[181] Karin Adelsbach spricht an dieser Stelle von einem „klassischen Kontrapost“. Dieser Begriff ist hier nicht angebracht, da das klassische Standbein-Spielbein-Motiv nicht unmittelbar gegeben ist; vergl.: Adelsbach (1996) 24.
[182] Ähnliche Parallelen zu Labans ‚Tanzschrift’ weisen auch Sophie Taeubers Dekorationstafeln für das Tanzcafé Aubette auf; vergl.: Adelsbach (1996) 24.
[183] Angela Thomas bezeichnete den Hell-Dunkel-Kontrast in Ragtime mit „voll und leer” und sieht ihn als malerische Umsetzung von Georges Vantongerloos plastischem Konzept: „volume + vide = espace“. Diese These muss aber eine Vermutung bleiben, da Thomas keine konkreten Belege vorlegte. In dieser Arbeit sollen die Überlegungen von Thomas nicht weiter ausgeführt werden, da sie außer für Ragtime für keine anderen Werke van Doesburgs relevant sind; vergl. Thomas (1987) 125.
[184] Robert Welsh glaubte auch in Komposition XVI in Dissonanten eine Betonung der Diagonalen feststellen zu können. Es ist richtig, dass van Doesburgs Komposition ‚wirrer’ erscheint als etwa Mondrians strenge Vertikal-Horizontal-Konstruktionen. Die diagonalisierenden Kompositionselemente sind allerdings zu wenig artikuliert, als dass man von einer Betonung der Diagonalen sprechen könnte; vergl.: Welsh, Robert P.: „Theo van Doesburg and geometric abstraction”, in: Nijhoff, Van Ostaijen (Herg.): De Stijl [Symposium „Modernism in the Low Countries 1915-1930”, Austin/Texas, Oktober 1973] (Den Haag 1976) 93.
[185] Mondrian, Piet: Brief an Theo van Doesburg (13. Juni 1918), zitiert nach: Baljeu (1968) 11.
[186] Blok (1975) 170.
[187] Seuphor (1964) 57.
[188] Hofmann (1966) 49 ff.
[189] Doesburg (1918/1967) 98.
[190] Die Umgestaltung ist heute nicht mehr existent, da sie vom Publikum als schrecklich empfunden wurde. Schon kurz nach der Eröffnung forderte man eine Übermalung. Die letzten Reste wurden schließlich 1940 von der deutschen Besatzung beseitigt; vergl.: Moszynska, Anna: Abstract Art (London 1990) 87 f.
[191] Doesburg, Theo van: De Stijl, Aubette-Nummer (1928), zitiert nach: Jaffé (1967) 240.
[192] Schoenmaker, Matthieu H.J.: Das Neue Weltbild (1915), zitiert nach: Frampton, Kenneth: „De Stijl“, in: Stangos, Nikos (Herg.): Concepts of Modern Art (London 1994) 141 f.
[193] Ostwald, Wilhelm: The Color Primer (Leipzig 1916). Ostwald war im übrigen der Begründer der Energetik, die Energie als Grundlage allen materiellen wie geistigen Geschehens betrachtete und aus der Krise der Materie in der Physik entstanden war. Seine Theorien zur Energetik wurden eine wichtige Quelle für den russischen Futurismus, v.a. für Velimir Chlebnikow; vergl.: Asendorf (1998) 156.
[194] Vergl.: Jacobson, Egbert: Basic color (Chicago 1948) 56.
[195] Thomas (1987) 136.
[196] Vergl.: Jacobson (1948).